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"Das Warenhaus wird ein Andershaus" – Zum Zustand der Innenstadt und neuen Plänen und Ideen sprechen wir mit Architektur Professorin Tatjana Schneider

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Braunschweig Über die Zukunft der Braunschweiger Innenstadt wird mit zunehmender Intensität diskutiert.Spätestens der „Karstadt-Schock“ hat das Bewusstsein für „neue Wege“ noch einmal geschärft. Professorin Tatjana Schneider, Professorin für Architekturtheorie und seit 2018 Leiterin des Instituts für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt in Braunschweig, ist Vizepräsidentin der TU Braunschweig. Sie genießt internationalen Rang als Autorin und Herausgeberin zahlreicher Bücher, Zeitschriften und Beiträge zu gesellschaftspolitischen Aspekten der Produktion von Architektur und Raum. Wir sprechen mit Tatjana Schneider.

Henning Noske:

In welchem Zustand befindet sich derzeit die Braunschweiger Innenstadt?

Tatjana Schneider:

Große Leerstände! Es gab sie bereits vor Corona, aber die Pandemie hat sie noch verstärkt. Es ist jedoch eine Innenstadt, die durch große Qualitäten hervorsticht. Räumliche Qualität, herausragende Plätze, die in ihrer Wirkung noch nicht so zur Geltung kommen, wie es möglich wäre. Hinzu kommt, dass konsumfreie Aufenthalts- und Verweilqualität eher Mangelware ist.

Henning Noske:

Ist der Konsum denn nicht der Zweck der Innenstadt?

Tatjana Schneider:

Das mag ja für lange Zeit und viele Jahre so gewesen sein. Tatsächlich hatte die Innenstadt immer auch eine wichtige Funktion, um eine Versorgung zu gewährleisten. Das hat sich jedoch in den letzten Jahren verändert – und diese Entwicklung ist immer stärker, immer sichtbarer geworden. Hinzu kommen ja auch Themen, die die Menschen bewegen: die notwendige Klimawende, auch eine Verkehrswende, die damit in Zusammenhang steht. Wir reden vom Konzept der kurzen Wege. Die inneren Städte, nicht nur die Innenstädte, haben deshalb bereits besondere Qualitäten. Das hat Menschen immer in die Innenstädte gezogen – und das sollte auch künftig so sein.

Henning Noske:

Aktuelle Schocks wie die Karstadt-Insolvenz und ihre Folgen lassen auch etwas anderes befürchten. Ist das eine Katastrophe – oder bietet es auch Chancen?

Tatjana Schneider:

Wir dürfen nicht vergessen: Für die Menschen, die dort arbeiten, ist es ein dramatischer Verlust. Die Schließung solcher großen Warenhäuser geht mit dem Verlust von qualifizierten Arbeitsplätzen einher. Dennoch ist es so, dass derart große Gebäude auch Chancen bieten, um zu einer multifunktionaleren, belebteren Innenstadt zu kommen, die auch an 24 Stunden an sieben Tagen, also immer, genutzt werden kann. Die aktuelle Entwicklung kann da auch ein Katalysator sein.

Henning Noske:

Wir reden nicht nur von Klima- und Verkehrswende, es geht ja wohl auch um eine Bauwende. Soll man alles abreißen? Oder: alles nur noch im Bestand?

Tatjana Schneider:

Das ist zunächst einmal für jedes Gebäude zu prüfen. In früheren Jahrzehnten wurden häufig Baumaterialien verwendet, mit denen wir heute große Probleme haben. Grundsätzlich muss ich sagen, dass ich tendenziell pro Erhalt plädiere. Dafür müssen kreative Lösungen her! Das haben wir in der Stadtplanung und in der Architektur über viele Jahre nicht geübt. Gut geübt haben wir, neu zu bauen. Da sind wir immer noch in einem Denken der 1950er und 1960er Jahre verhaftet. Immer wieder zählt nur das Neue. Wir müssen das Umbauen, das Umnutzen, das Reparieren von Stadtstrukturen und Gebäuden üben, es lernen. Wir müssen mit diesen Gebäuden umgehen – und wir können es auch, wie gelungene Beispiele zeigen.

Henning Noske:

Jetzt gibt’s in Braunschweig vielleicht bald drei monströse Kaufhaus-Leerstände, um einen wird noch erbittert gekämpft, um ihn abzuwenden – das ist ja für Ihre Theorie wie im Lehrbuch, da könnten Sie ein Forschungsprojekt draus machen. Also zeitgemäß umbauen, mit Ideen – wofür hat man eigentlich eine TU?

Tatjana Schneider:

Die Hochschulen haben sich in den vergangenen Jahren bereits stark mit der Leerstands-Thematik in den Innenstädten auseinandergesetzt. Wenn Sie nach Oldenburg schauen, nach Siegen, Hamburg, Berlin – da sieht man schon, dass für extrem große leerstehende Immobilien tatsächlich auch kreative Ideen gefunden werden. Das wissen wir auch aus Braunschweig, wo aus der Stadtgesellschaft viele Ideen kommen. Da geht viel! An der TU haben wir im Institut für Geschichte und Theorie der Architektur und Stadt das „Institut für örtliche Angelegenheiten“ als Ideen-Labor gegründet. Da wird aus dem Warenhaus ein Andershaus. Gegen Leerstände helfen öffentliche Nutzungen.

Neue Perspektiven für Wohnen und Arbeiten in der Innenstadt werden entwickelt. Wir reden von neuen Arten von „Urban Farming“, landwirtschaftliche Produktion in der Stadt. Wir reden von Aufenthaltsqualität
für Jugendliche im Sinne etwa von Skaterflächen, Indoorspielplätzen, wir reden von Rad-Parkhäusern. Vieles geht. Betonplatten können aufgeschnitten werden, um Licht in die Tiefe, ins Innere zu bringen. Es gibt da mittlerweile nicht nur eine ganze Menge Ideen, sondern auch Technologien, wie man sie umsetzen kann. Das hat stark Fahrt aufgenommen und wird an anderen Orten bereits umgesetzt. Als TU sind wir bereit!

Henning Noske:

Nie mehr neu bauen? Eine neue Konzerthalle beispielsweise in einem neuen Quartier, das alle aktuellen Kriterien von Klima bis Verkehr und nachhaltigem Bauen erfüllt, wäre günstiger und unproblematischer als alles andere.

Tatjana Schneider:

Das Argument über den Preis ist aus meiner Sicht zu kurz gedacht. Der Preis für weitere Eingriffe in natürliche Haushalte und Kreisläufe ist oft nicht ausreichend inbegriffen. Welche Kosten tatsächlich in die Berechnungen einbezogen sind, das muss man genau und kritisch anschauen. Wir müssen jeden Neubau, den wir angehen, noch kritischer betrachten, als wir dies noch vor wenigen Jahren getan haben.

Henning Noske:

Also: ein Haus der Musik neu bauen oder einen Leerstand in der Innenstadt nutzen?

Tatjana Schneider:

Vorweg: Ich halte die Zusammenführung der auf mehrere Standorte verteilten städtischen Musikschule für gut und absolut wichtig. Aber ich würde mir wünschen, dass man tatsächlich auch noch einmal ergänzend auf die vorgeschlagenen und auch noch weitere Gebäude in der Innenstadt schaut – und diese unter erweiterten Aspekten der sozialen Gerechtigkeit und der Nachhaltigkeit auch in Bezug auf das Klimaschutzkonzept 2.0 der Stadt Braunschweig untersucht. Wir reden vom „Tod unserer Innenstadt“, wir reden davon, dass dieser zentrale Bereich der Stadt immer mehr an Qualitäten verliert, dass er sehr stark durch Konsum geprägt ist, dann müssen wir jetzt auch mal konsequent durch zum Beispiel die Umnutzung eines großen innerstädtischen Leerstands einen eminent wichtigen Impuls für eine Neukonfiguration der Innenstadt geben. Und das sind auch erweiterte nicht-konsumorientierte Funktionen!

Henning Noske:

Welche Rolle spielen dabei die Immobilienbesitzer? Vielleicht wollen die das ja gar nicht.

Tatjana Schneider:

Es ist wichtig, mit Eigentümern noch stärker ins Gespräch zu gehen. Und nicht auszuschließen, dass Städte aktiver als Auftraggebende werden müssen. Sie haben die Kraft, und sie sind auch gefordert, ganz wichtige gemeinwohlorientierte Impulse selbst setzen zu können. Da haben gerade Städte eine zentrale Kraft und Verantwortung. Das erfordert auch Mut. Wir müssen das Umbauen, das Umnutzen, das Reparieren von Stadtstrukturen und Gebäuden üben, es lernen.

Published by

Braunschweiger Zeitung