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(Inter)acting

Institut für örtliche Angelegenheiten. Wider den Leerstand – Galeria Kaufhof

Writing
Tatjana Schneider, Licia Soldavini, Ayat Tarik, Diana Lucas-Drogan, Martin Peschken und Niloufar Tajeri

Als wir uns dem Gebäude Ende Juli 2020 zum ersten Mal näherten, hatten zwar einzelne Presseberichte die Schließung des Hauses angekündigt – aber das Warenhaus war noch offen. Wie in anderen Gebäuden dieser Art wurden hier über vier Etagen hinweg Konsumgüter verkauft: Töpfe, Bettwäsche, Schmuck, Parfum, Spielzeug und Sportwaren, Näh- und Strickzubehör, Damen-, Herren- und Kinderbekleidung, Schuhe, Handtaschen, Angelruten und -haken, Schreibwaren, Schulranzen, Füller und Trauerkarten, Hüte, Weihnachtsdekoration und Faschingskostüme. One-Stop-Shops diese Warenhäuser, in vielen Aspekten.

Kurz danach hieß es dann allerdings: „ALLES MUSS RAUS“, „WIR SCHLIESSEN DIESE FILIALE“, „ALLES REDUZIERT“, „GROSSER SORTIMENTSABVERKAUF“. Innerhalb weniger Wochen wurden die Verkaufsflächen verkleinert. Schritt für Schritt, von oben nach unten. Die verbleibenden Waren wurden immer billiger: „HEUTE BILLIGER -50%“, HEUTE BILLIGER -60%“, „HEUTE BILLIGER -70%“. Wie in dem Roman Die Unendliche Geschichte, wo sich das Nichts schleichend aber stetig ausbreitet, wurden im Warenhaus am Bohlweg in Braunschweig jeden Tag weitere Flächen von der neuen Leere verschluckt. Irgendwann war das 4. Geschoss dann nicht mehr öffentlich zugänglich, kurz danach war auch das 3. weg, bis zuletzt nur nur noch das Erdgeschoss für Kund*innen geöffnet war.

Je weiter die innere Entleerung fortschritt, desto umfangreicher wurde die Wand an Nachrichten, die sich in den Schaufenstern direkt neben dem Haupteingang bildete. Auf gelben, vom Betriebsrat der Galeria Karstadt Kaufhof GmbH an Kund*innen verteilten Zetteln taten Menschen, langjährigen Kund*innen, ihren Missmut über die Schließung kund: „Ich bin sooooo traurig!“, „Super Laden, soll nicht geschlossen werden“, „Wir wollen bleiben!!! Galeria Kaufhof ist Braunschweig“, „Mir tun die Mitarbeiter leid, denen sie keine Zukunft bieten. Kein Politiker liefert Antworten auf diese Zeiten“, „Wir kommen schon seit über 35 Jahren … Wir würden uns freuen, wenn die Filiale nicht geschlossen wird“, „Bitte lösen Sie Galeria nicht auf!!! … Was können wir als Kunden tun? … Bitte lassen Sie uns gem. eine Lösung finden!!“

Die ohnehin angeschlagene Branche, so hieß es offiziell, sei durch die Corona-Krise so stark geschwächt worden, dass nur die Schließung zahlreicher Warenhäuser die Insolvenz des Unternehmens abwenden könne. Und so kam es, dass trotz zahlreicher Proteste das Kaufhaus in Braunschweig – zusammen mit vielen anderen Filialen bundesweit – im Oktober 2020 seine Türen schloss. Seitdem ist nicht viel passiert. Die Schaufenster im Erdgeschoss sind zu Werbeflächen der Eigentümerin geworden. Die eine Zwischennutzung in einer der oberen Etagen kam und ging wieder. Heute – im März 2022 – steht das riesige Ding immer noch leer.

Das kleine Buch, das hier vorliegt, erzählt von der Schließung dieses riesigen innerstädtischen Warenhauses in Braunschweig und von Ideen für neue Nutzungen, neue Eigentumsverhältnisse, neue Zukünfte. Uns schwebte dabei allerdings kein anything and everything goes vor, sondern wir gaben eine generelle Richtung vor: Gemeinwohl. Konzepte, Prinzipien und Geschichten sollten sich vor allem der Erarbeitung eines Narrativs widmen, das Die Vielen und ein gutes Leben für alle im Blick hat. Wir wollten Konsumverhalten und Konsumgesellschaft genauso wie die take, make, consume, dispose Mentalität kritisch hinterfragen. Es galt ganz grundsätzlich über zukünftige Formen der sozialen und ökonomischen Organisation von Raum und Gesellschaft nachzudenken. Dabei ist wichtig zu sagen, dass der Abriss des Hauses, wie von vielen Seiten immer wieder gefordert, nie zur Debatte stand. Diese Entscheidung war keine von ästhetischen Prinzipien geleitete. Stattdessen wollten wir aufzeigen wie – in Zeiten des Klimanotstands – ein vorsichtigerer Umgang mit den uns zur Verfügung stehenden Ressourcen zu interessanten architektonischen und programmatischen Ergebnissen führt.

Entstanden sind Gespräche, Entwürfe, Seminararbeiten, performative Auseinandersetzungen und Geschichten aus der Zukunft, die alle davon sprechen, dass die Schließung des großen Warenhauses auch eine Chance sein kann: für ein Überdenken von Versorgungsformen, der Ausbildung neuer solidarischer und partizipatorischer Wirtschaftsmodelle sowie zukunftsfähiger inklusiver Architekturformen und einer nachhaltigen Stadtplanung. Es gibt genügend Beispiele in anderen Städten, die uns vormachen, wie das geht. Braunschweig, das wurde immer wieder klar, kann das auch.

Bedeutet die Schließung eines großen Warenhauses gleich auch immer ein Niedergang der Innenstadt? Kann das leerstehende architektonische Erbe eine Chance sein? Warum nicht urbane Produktionen mitten in der Stadt? Warum nicht Pilz- und Fischfarmen oder fantastische Reallabore? Warum kein „Andershaus“?

Published by

TU Braunschweig, Braunschweig, 2023